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AutorenbildAntje Reichert

Kämpfen wir für Frieden?

Diese Tage sind eine besondere Herausforderung für mich. Ich bin - gemeinsam mit meinem Sohn - auf dem Weg zur Jahrestagung des Versöhnungsbundes. Der Internationale Versöhnungsbund setzt sich seit 1914 für Gewaltfreiheit ein und macht sich gegen Unrecht und Krieg stark. Ich kenne bisher weder den Verein noch irgendein Mitglied und dennoch erlebe ich mich in großer Vorfreude und Neugier auf die nächsten Tage, auf die noch kommenden Gespräche, Impulse und ich spüre, dass es mich schon vor dem Start bewegt, dass ich auf viele Menschen treffen werde, die offenbar ähnliche Werte teilen wie ich und die ebenfalls mit einer ähnlichen Vision aktiv sind.


Mein Sohn (6 Jahre alt) freut sich auf Hotelurlaub mit Kinderbetreuung. So angekündigt hatte ich das nicht. Es ist seine ganz individuelle Interpretation unseres Ausflugs und ich habe das umkommentiert gelassen. Er hat ein bißchen Spielzeug eingepackt - darunter seine aktuellen Lieblings-Lego-Figuren: alles irgendwelche Kämpfer mit Schwertern, Streitäxten, Wurfkrallen, die sich selbstverständlich (was sollten sie auch anderes tun) seit unserer Abreise heute Morgen permanent im Kampf befinden.


Während der Anreise mit dem Zug beobachte ich ihn beim Spiel und mein Gedankenkarussell beginnt sich wild zu drehen. Ich sehe meinen Sohn bereits während der Eröffnung der Jahrestagung des Versöhnungsbundes durch einen großen Saal voller Menschen rennen, höre ihn lauthals „Attacke“ schreien und sehe vor meinem geistigen Auge, wie er lachend und „zum Spaß“ alle Menschen erschießt, die ihm in die Quere kommen. Da wird mir mächtig eng in der Brust und ich atme erstmal ein paar Mal tief durch.


Kriege, Kämpfe, Wettkämpfe - das ist gerade genau sein Ding. Meine Erklärungsversuche, dass wir die nächsten Tagen mit Menschen verbringen, die explizit nach anderen Wegen suchen, beeindrucken ihn wenig und letztlich interessieren sie ihn auch nicht denn kämpfen ist gerade richtig cool für ihn - und diese Phase dauert hält bereits seit einigen Monaten an. Daran haben auch Todesfälle naher Angehöriger nichts geändert oder Kinder, die aus Kriegsgebieten flüchten mussten und nun mit ihm in die gleiche Kindergartengruppe gehen.


Wir ticken da derzeit einfach unterschiedlich. Mich kostet es mächtig viele Nerven ihn ständig im Kriegsspiel zu erleben und ich ringe mit Erklärungsversuchen, mit verschiedenen Strategien, mich selbst davon abzugrenzen und mich ihm gegenüber ganz klar gegen Krieg und Kampf zu positionieren.



Ungefähr 3 Stunden später liegt die Eröffnung der Jahrestagung dann hinter mir, die kämpfenden Lego-Figuren haben von mir Stubenarrest bekommen und sie dürfen unser „Hotelzimmer“ für die nächsten 3 Tage nicht verlassen. Das meinem Kopf entsprungene Horrorszenario mit meinem („nur aus Spaß“) um sich schießenden Sohn ist weder in der angedachten noch in anderer Form Realität geworden. Stattdessen sitze ich kurze Zeit später in einer Kleingruppe mit mir bis dato unbekannten Menschen für eine erste Vorstellung und neben Name, Beruf, Erwartungen sind wir auch eingeladen eine Situation zu teilen, in der wir uns ohnmächtig fühlten. Und ich nutze die Gelegenheit, ergreife als erste Person das Wort und erzähle von meinem wilden Hirngespinst während der Anreise. Während ich die Szene beim Erzählen noch ein weiteres Mal durchlebe und -fühle, spüre ich erneut wie unangenehm, bedrohlich, beängstigend und auch schambesetzt diese Gedanken für mich sind.


Gleichzeitig ermöglicht mir dieses mich-öffnen auch eine besondere Form der Verbindung mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Raum. Ich spüre mein unendlich tiefes Vertrauen darin, dass die Haltung der Gewaltlosigkeit für mich der einzig gangbare Weg ist und ich darf erneut erleben, wie scheinbar schnell und leicht tiefe Verbindung möglich wird wenn ich ehrlich und authentisch auf andere Menschen zugehe und mich vollumfänglich zeige - mit all meinen Licht- und Schattenseite.


Genau dazu hat mich die Gewaltfreie Kommunikation befähigt und das möchte ich nicht mehr missen: diese Verbindungen von Herz zu Herz, diese besonderen Räume von Begegnungen, die ich selbst (mit)gestalten kann und die ich als so nährend erlebe sowie diese besondere und achtsame Betonung von Wertschätzung, Respekt und Toleranz.

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